Weihnachten 1938 im KZ Dachau

Foto: Winter am Aschegrab Gedenkstätte des KZ Dachau, Rechte: Verein Selige Märtyrer von Dachau

Artikel von Klemens Hogen-Ostlender

Advent 1938.

Am Weihnachtsbaum leuchten  bereits die elektrischen Lichter. Tausende stehen um ihn herum und freuen sich auf  zweieinhalb arbeitsfreie Tage. Endlich Erholung von der harten Arbeit. Eigentlich wollten sie das Fest zuhause verbringen. Das hatte man zumindest Kaplan Alfred Berchtold auch versprochen. Aber statt Vorfreude auf besinnliche  Tage in seiner Heimatpfarrei ist er von Schrecken erfüllt. Er muss mit ansehen, wie zwei Kameraden mit Ochsenziemern auf der Lagerstraße fast totgeprügelt werden. Seit März saß er in Haft, weil er  in der katholischen Arbeiterbewegung aktiv war. Zuerst in Salzburg, seit Oktober nun in der Strafkompanie im KZ Dachau.  Dass er nicht nur dieses Weihnachtsfest, sondern noch sechs weitere im Lager durchstehen muss, eins davon in Buchenwald, ahnt der 34jährige nicht. Er ist entschlossen, seinem Glauben treu zu bleiben. Das zeigt auch seine Schilderung der Ankunft im Lager in Priesterkleidung (Siehe Artikel „Priesterkleid im KZ Dachau“ auf dieser Hompage). Berchtolds  Aufzeichnungen der Tage vor jetzt 86 Jahren zeigen, wie der Glaube ihm half, zu überleben. Aber sie sind keine erbauliche Weihnachtsgeschichte.  Dies sind Auszüge aus seinen Erinnerungen:

Nun sind wir also doch noch alle da. War das eine Zeit des Zweifelns, des Hoffens und des Bangens. Im Polizeigefängnis hatten man uns gesagt: Bis Weihnachten sind Sie alle bestimmt wieder zu Hause. Darauf gründete sich unsere Hoffnung; die älteren Häftlinge freilich haben uns ausgelacht. Aber wer will denn hören, wer will sich denn eine so schöne Hoffnung rauben lassen? Jeden Morgen, wenn der Blockschreiber in den Block kam, warteten wir mit Herzklopfen und Zittern, ob er nicht Entlassungen brächte. Aber immer nichts, immer nichts. Niemand wird zu Weihnachten entlassen. [Berchtold wusste möglicherweise, dass es vor Weihnachten 1933 tatsächlich solche Entlassungen gegeben hatte]. Wir werden dieses Fest in Dachaus Trostlosigkeit verbringen müssen. Ein Trost wenigstens: Die Weihnachtstage werden ohne Hunger sein. Und zweieinhalb Tage ohne Arbeit. Welch ein Fest für uns, die wir jeden Sonntag arbeiten mußten“.

Die „Güte und Liebe“ der Schwester Pia

Am 22. Dezember 1938 kam die Schwester Pia ins KZ. Die Krankenpflegerin gehörte zu den (auch wegen der Farbe ihrer Kleidung so genannten „Braunen Schwestern“ der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“. Sie hieß mit bürgerlichem Namen Eleonore Baur und gestand nach dem Krieg die Teilnahme an oft tödlichen Unterkühlungsversuchen mit Häftlingen. Das Landgericht München befand jedoch 1949, die Beweise reichten für eine Verurteilung wegen Beihilfe  zum Mord,  Körperverletzung mit Todesfolge oder gefährlicher Körperverletzung nicht aus. Baur wurde stattdessen im Entnazifizierungsverfahren zur Höchststrafe von zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt, schon nach acht Monaten aber aus gesundheitlichen Gründen entlassen und starb 1981. Alfred Berchtold erinnert sich: „Am Appellplatz wurde ein großer Christbaum mit elektrischen Birnen aufgestellt. Ist es nicht wie ein Hohn, auf dem Platz, der schon so viel Blut getrunken hat,der soviel Marter und Pein schon geschaut, das Symbol der Liebe und des Friedens! Das ganze Lager ist in Aufregung. Schwester Pia hat den verwundeten Nazis an der Feldherrnhalle ersten Beistand geleistet. Deshalb ist so so sehr von Hitler geehrt und ausgezeichnet worden.“ Berchtold glaubt „an das Wunder, dass einmal ein Wort der Güte erklingen würde, in diesem Lager, das vom Morgen bis zum Abend nur von Fluchen und Lästern, von Schimpfen und Drohen, von Höhnen und Spotten erfüllt ist“.

Der Kommandant gibt bekannt, daß jeder „durch die Güte und Liebe der Schwester Pia“ ein Päckchen bekommt. Dann spricht sie. Berchtold versteht nicht alles: „Ich höre nur, dass wir der Abschaum der Nation sind, daß wir dem unendlich gütigen Herzen des Führers wehe getan haben. Er sehnt sich danach, daß er uns gebessert, geläutert und gewandelt als brauchbare Glieder wieder in die Volksgemeinschaft eingliedern kann. Und weil der Führer ein solch liebeweites Herz hat, ist sie gekommen,  um uns ein Weihnachtsgeschenk zu bringen. Wir hätten es ja nicht verdient, weil wir den Führer beleidigt haben. Und dazu brennen die Lampen am Christbaum. Stille Nacht – heilige Nacht, und ein Weib beschimpft politische Häftlinge“. Als letzter Block kommt die Strafkompanie an die Reihe.  Schwester Pia schimpft: „Ihr seid die Lumpen im Lager. Schämt ihr euch nicht, ihr Brotdiebe, ihr Lumpen, ihr Verbrecher? Anspucken sollte man euch. Ihr seid der Auswurf der Menschheit“ Sie droht mit erhobener Faust: „Lumpenpack, Verbrechergesindel!“. Das ist die Weihnachtsbescherung der Schwester Pia... Der Kaplan fühlt sich erniedrigter denn je: „Das ist die größte Verhöhnung des Festes der Liebe. Geschimpft, grausam beschimpft durch ein Weib“. Er bringt es trotz seines Hungers nicht fertig, sein Geschenk, eine kleine Packung Kekse, zu essen und verschenkt die Schachtel abends.

„Gehorsamste“ Meldung zum Strafvollzug

Am 23. Dezember sind die Angehörigen der Strafkompanie guter Dinge.  Am nächsten Mittag sollen zweieinhalb arbeitsfreie Tage beginnen. Doch der Lagerführer zerstört den Optimismus. Zwei Häftlinge haben „einen Fluchtversuch vorgetäuscht“, sagt er. Dafür werden sie mit 25 Stockhieben bestraft, „und das ganze Kommando steht zur Strafe über Mittag ohne Essen auf dem Appellplatz.  Fünf Tage zuvor hatten sich zwei Mann wegen der Kälte in einem Heizungsschaft verkrochen, wurden herausgeholt, halbtot geprügelt und in den Bunker gesteckt. Berchtold ahnt, dass sie seitdem hungern mussten. Nun  müssen sie vortreten mit den Worten „Schutzhäftling sowieso meldet sich gehorsamst bei Herrn Schutzhaftlagerführer und bittet gehorsamst um seine Bestrafung“.  Der erste wird bäuchlings auf ein Holzgestell, den „Bock“ geschnallt und wird von zwei Blockführern mit schweren Ochsenziemern malträtiert. Sie legen sich so ins Zeug, dass sie trotz der Minusgrade schwer ins Schwitzen geraten.

Das Opfer muss mitzählen: „Eins..., zwei.., drei...“. Bei 18 hören die Kameraden hören nur noch Laute wie das Gebrüll eines maßlos gequälten Tiers. Doch der Geprügelte schafft es irgendwie, die restlichen Zahlen herauszubrüllen. Dann ist die Qual vorbei. Das Opfer wird losgeschnallt und muss wieder melden: „Schutzhäftling sowieso meldet gehorsamst den Vollzug der Strafe“. Zwei andere Blockführer müssen den nächsten Gefangenen prügeln. Die ersten beiden können nicht mehr. Die Strafkompanie muss weiter mit knurrendem Magen, müssen nachmittags ohne Essen wieder an die Arbeit. Der österreichische Kaplan kann nicht einmal mehr beten: „Immer noch höre ich das Sausen der Ochsenziemer, immer wieder sehe ich die vor Wut und Anstrengung verzerrten Gesichter der schlagenden Blockführer, immer noch schüttelt mich das Grauen. Mich erfaßt eine tiefe, tiefe Traurigkeit. Und morgen ist Weihnacht!“ Der Priester schilderte in seinen Erinnerungen diese  Quälerei noch sehr viel ausführlicher, als es hier wiedergegeben wird. Allein aus menschlicher Kraft, ohne das Fundament des Glaubens, wäre es unmöglich gewesen, dass  Geistliche  im KZ Dachau oft auch für die SS-Männer beteten, die sie beschimpften, schlugen und quälten.

Trotz allem: In den Herzen Weihnachtsfrieden

Heiligabend! Mittags beginnt die Arbeitsruhe. Auf der Blockstraße stehen viele Gruppen zusammen, um ein wenig zu plaudern. Sieben Häftlinge von der Wiener katholischen Jugend haben Alfred Berchtold um einige Worte zum Weihnachtsfest gebeten. Man späht vorsichtig, ob nicht einer der gefürchteten Spitzel und Denunzianten sich heranschleicht. Religiöse Gespräche werden mit 25 Hieben und 42 Tagen Bunker bestraft. Der Kaplan rekonstruiert viel später seine Worte: „Ich spreche vom rex pacificus, dem Friedenskönig, der durch Bethlehem ging und anklopfte bei den Menschen. Niemand hat ihm aufgetan. Dann ist er geflüchtet zu den Ärmsten und Verlassensten. Bei den Hirten hat er Aufnahme und Liebe gefunden. Äußerlich sind sie die gleichen armen, verlassenen Hirten geblieben. Aber der Friedenskönig ist bei ihnen eingekehrt und hat ihre Herzen erfüllt mit dem tiefen, heiligen Glück inneren Friedens. So geht der Friedenskönig auch heute durch die Lande und klopft bei den Menschen an. Aber die Menschen wollen ihn nicht kennen und nicht aufnehmen wie damals. Da kommt er zu den Ärmsten der Verlassensten, klopft an an den Hütten der Armen und Leidgebeugten, an den Türen der Gefängnisse, kommt auch zu uns an den Ort äußerster Verlassenheit. Und wir wollen unsere Herzen ihm öffnen und ihn aufnehmen in liebender Seele. Äußerlich werden wir dieselben bleiben. Nicht Befreiung dürfen wir vom Friedenskönig der Weihnacht erwarten. Wir werden uns weiter dahinschleppen unter dem Kreuz des geschundenen, gequälten Häftlingslebens, vielleicht Jahre noch. Aber in unserer Brust wird er ein stilles Flämmchen des Glücks entzünden; im Bewusstsein des inneren Einsseins mit ihm, dem Friedenskönig, werden auch wir heiligen Frieden tragen im Herzen inmitten des Unfriedens und der äußeren Qual des Lagerlebens. Das wird unsere Weihnachtsgnade sei und unsere Weihnachtsfreude sein“. Für den Priester sind das keine leeren Worte, anderen zum billigen Trost gegeben: „Das ist mein tiefstes, inneres Fühlen“. Gemeinsam mit den Sieben betet er ein Vaterunser, gibt ihnen heimlich den heiligen Segen, nimmt jedem die Beichte ab und erteilt die Absolution: „Nun ist Weihnachtsfrieden in unseren Herzen“.

Jede Form von Weihnachtsfeier ist streng verboten. Abends suchen die meisten im Block Trost für innere Leere in den Weihnachtspaketen, die jeder bekommen durfte. Oft sind Speck und Würste zu viel für den ausgehungerten Magen. Alfred Berchtold und sein Freund Hans aus Berchtesgaden erinnern sich an Weihnachtsfeste glücklicher Kinderjahre im Elternhaus. Trotz aller Wehmut und Sehnsucht empfindet der Kaplan ein stilles Glück und weiß sich eins mit dem Gotteskind in der Krippe in Bethlehem. Plötzlich zieht Hans einen Tannenzweig mit einer kleinen Kerze hervor. Die SS  muss das in seinem Paket übersehen haben. Der Freund zündet die Kerze an, und bald selbst summen die Lippen der beiden Männer das Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“.

Glockenklang aus Dachau

Am Weihnachtsmorgen dürfen die Häftlinge bis sieben Uhr ausschlafen. Beim Morgenappell stehen sie zweieinhalb Stunden lang bewegungslos. Glockenklang aus Dachau schallt herüber.  Alfred Berchtold betet aus dem Kopf die Messgebete leise mit und weiß sich dabei in  guter Gesellschaft.Im Geiste ist man um den Altar in der Stadt versammelt. Der Priester ist trotz der bedrückenden Umgebung von Glück erfüllt: „Auch uns ist das Kind geboren. Diese Erbarmung, diese Liebe Gottes neigen sich uns genauso zu wie den Menschen draußen –  noch viel inniger, noch viel tiefer neige sie sich zu uns, weil wir genauso arm, ja noch ärmer als das Kind in der Krippe sind“. Beim Wandlungsläuten, so Berchtold, „neigt sich meine Seele, um das Kind anzubeten in der weißen Hostie, die der Pfarrer von Dachau in dieser Minute in die Höhe hält“. Der Appell nimmt kein Ende.  Austreten ist nicht möglich. Bei einigen zeigen sich die Folgen des zu reichhaltigen Essens aus den Weihnachtspaketen: „Das Menschliche, Allzumenschliche geschieht. Die armen Kerle, die es nicht mehr ausgehalten haben, müssen im kalten Wasser nachher mit den Händen ihre Klamotten waschen und sitzen den ganzen Tag in nassen Sachen. Zum Wechseln gibt es nichts“.

Nach dem Sturm auf die Aborte gibt es tatsächlich einmal ein richtiges Essen: Suppe, Rindfleisch, und für jeden ein ganzen Stück, Kartoffelsalat. Aber die Häftlinge haben kaum angefangen, da kommt der Befehl: „Alle sofort raus! Jeder sein Essgeschirr mitnehmen!“ Was ist geschehen? Ein Durchfallkandidat hat eine Abortschüssel arg verschmutzt.  Nun müssen alle sich das mit dem Essgeschirr in der Hand ansehen. Wer nicht  „richtig“ hinsieht, bekommt einen Schlag, dass er mitsamt seinem Essnapf im Kot landet. Nicht nur Alfred Berchtold ist der Appetit vergangen: „Das einzige richtige Essen nach langer Zeit ist  uns verleidet. Mittagessen am Weihnachtstag in der Strafkompanie!“ Der Blockälteste hält der Truppe obendrein eine Standpauke, beschimpft sie als verfressene Schweine. Die gute Stimmung ist ausgelöscht: „Mürrisch und verdrossen hocken wir in der Stube und warten nur, daß bald der Nachmittagsappell ist und wir dann schlafen gehen dürfen – schlafen, und im Schlaf vergessen suchen allen Qual“.

Klemens Hogen-Ostlender